Unheimliche Begegnung
Als wir wieder einmal in den Pyrenäen unterwegs waren, um dort nach alten Übergängen nach Spanien zu suchen, blinkten die schneebedeckten Spitzen des Canigou verführerisch in der Sonne. Ob Pilger auch versucht haben, über dieses faszinierende Bergmassiv nach Spanien zu gelangen? Unsere alten Karten gaben keine Auskunft darüber. Wohl aber liegen mehrere mittelalterliche Abteien in diesen Bergen, und die Pilger haben ja gerne Klöster besucht und auch dort übernachtet. Ein Mönch von Saint-Michel-de-Cuxa glaubte zu wissen, dass sie sehr wohl hier über die Berge gestiegen waren und deutete vage in die vermeintliche Richtung.
Wir quartierten uns für einige Tage im Tal ein, besuchten Saint-Martin du Canigou, doch das sprichwörtlich schlechte Wetter in dieser Ecke war mit schuld, dass unsere Wegsuche missglückte. Dafür aber hatten wir in den Klöstern einige tiefe Begegnungen mit anderen Pilgern, an die wir uns gerne erinnern.
Wieder zuhause erzählten wir Pilgerfreunden von unseren Erlebnissen und bekamen daraufhin von einer Freundin folgende Geschichte zu hören:Ebenso wie wir war sie fasziniert vom Canigou und legte ein paar Ruhetage in einem der kleinen Dörfer des Tals ein. Sie wollte zumindest ein Stück in Richtung Canigou wandern und – wer weiß – vielleicht würde sie ja auf einen Weiterweg nach Spanien stoßen? Am nächsten Morgen, einem wunderschönen Sommertag, machte sie sich auf den Weg, kam gut vorwärts, als aus heiterem Himmel Nebel aufkam. Die weißgrauen Nebelschwaden wurden immer dichter, sie fürchtete, sich zu verlaufen und überlegte verzweifelt, was sie tun sollte. Umkehren, ja, aber würde sie den Rückweg auch wieder finden? Plötzlich kam aus dem Nebel ein Wanderer auf sie zu. Sie waren sofort irgendwie vertraut miteinander, gingen wie selbstverständlich gemeinsam weiter, plauderten über Gott und die Welt und sie nahm die Zeit und das Wetter gar nicht mehr so wahr. Irgendwann klarte plötzlich der Himmel auf, unsere Freundin freute sich, bewunderte das Bergpanorama und drehte sich zur Orientierung nach allen Seiten um. Sie stellte fest, dass der Nebel tatsächlich komplett weg war – aber leider auch ihr Begleiter – er war ebenso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Schlagartig fielen ihr alle Geschichten über Jakobus ein, die man sich auf dem Jakobsweg erzählt. Sollte er es gewesen sein, der ihr geholfen hat? Oder war es vielleicht ihr Schutzengel? Oder hatte ihr die Fantasie einen Streich gespielt? Verwirrt und nachdenklich begab sie sich auf den Rückweg ins Tal, wollte ihre Eindrücke zuerst sortieren. Doch als sie uns davon erzählte, war sie über ihr Erlebnis immer noch verwundert und grübelte mit Kopf und Herzen darüber nach. Und wir hatten einmal mehr von einem unerklärlichen Erlebnis auf dem Jakobsweg gehört, von denen Pilger immer wieder einmal berichten. Zu diesem viele Geheimnisse bergenden Weg gehören sie einfach dazu.