Santiago-Splitter

Kathedrale, Tagebuch September 2000:

Nicht an irgendeinem Ziel sind wir angekommen, sondern an einem Ort, der die Menschen Europas seit Jahrhunderten angezogen hat. Auch wir haben diese Stadt in uns geahnt, von ihr geträumt, eine Vision hat sich nun erfüllt, wir sind bei Jakob angekommen! Viele von den Pilgern, denen wir unterwegs schon öfters begegnet sind, treffen wir hier am Platz wieder. … Die Wiedersehensfreude ist jedes Mal riesengroß.

An der Säule des Portico de la Gloria, auf der Jakobus sitzt, legen seit 1000 Jahren die Pilger ihre Finger in die Vertiefungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte in den Stein gegraben haben. Auch wir setzen diese alte Pilgertradition fort und vertrauen Jakob alles an, was wir auf dem Herzen haben. Wir fühlen uns von ihm angenommen und ein wunderbares Glücksgefühl breitet sich in uns aus.

Alle Pilger, die an diesem Tag in Santiago eingetroffen sind, dürfen während der Pilgermesse vorne im Altarraum sitzen. Die Messe beginnt, der Priester liest vor, welche Pilger heute hier angekommen sind, woher sie stammen und von wo aus sie gelaufen sind. Wir werden zuerst genannt: Deutsche Pilger aus München, die von München aus bis hierher gelaufen sind! Also waren wir heute diejenigen mit dem weitesten Weg. Dann folgt eine lange Liste mit Orten, an denen die anderen gestartet sind und das Herkunftsland. Die meisten sind aus Spanien, einige aus Frankreich und Italien, ein paar aus Montreal und aus Japan, insgesamt etwa 50.

Kathedrale, Juli 2017

Ja, vieles hat sich verändert seit unserer ersten Ankunft in Santiago de Compostela. Aber im „Haus Jakobs“, in der Kathedrale, werden die Pilger vom lächelnden Jakobus immer noch herzlich empfangen. Wir können ja verstehen, dass sein Haus, das so viele Jahrhunderte überdauert hat, ab und zu hergerichtet und renoviert werden muss, damit es den Pilgern noch weitere Jahrhunderte zur Verfügung steht.

Die Fassade wird gerade gesäubert und renoviert, die Türme sind eingerüstet. Die Gesamt-Renovierung soll bis zum nächsten Heiligen Jahr 2021 dauern. Der Eingang vom Prazo do Obradoiro kann derzeit nicht benutzt werden. Der Zugang ist nur von der Südseite her möglich. (Nordseite nur Ausgang). Auch das Glorienportal ist noch eingerüstet, schade für die Pilger! Mit großen Rucksäcken darf man leider nicht mehr in die Kathedrale. Auch der Altarraum steht den Pilgern während der Pilgermesse nicht mehr zur Verfügung. Immerhin – nach einigen Jahren, in denen sich im Altarraum zur Messe nur hohe Würdenträger aufgehalten haben und sich die Pilger „irgendwo“ zwischen die vielen Besucher quetschen mussten – sind jetzt die vorderen Kirchenbänke für sie renoviert. Das gefällt uns, ist es doch „ihre“ Messe! Und die Schwester mit der glockenklaren Stimme, die schon im Jahr 2000 so an unser Herz gerührt hat, singt immer noch vor

Außerdem meldeten wir uns für den kostenlosen geistlichen Rundgang um die Kathedrale an. Es gibt ihn seit 2009 im Rahmen der Pilgerseelsorge Santiago de Compostela für deutschsprachige Pilger (Mai bis Oktober). Wir waren überrascht, wie viele neue Impulse und Botschaften die Kathedrale noch für uns bereithielt und können diese spirituellen Rundgänge nur weiterempfehlen.

Die Platerias-Fassade am Südeingang der Kathedrale ist die einzige, deren romanische Struktur noch erhalten ist, auch wenn später noch Figuren hinzugefügt wurden. Als Pilger suchen wir natürlich zuerst wieder Jakobus, und finden ihn neben der Hauptfigur Christus der König. Groß und dominierend steht er zwischen zwei Baumstämmen, sicher zum Zeichen dafür, dass es sich hier um „sein Haus“ handelt. An unauffälligerer Stelle steht Petrus mit dem Schlüssel. Sieht er deshalb etwas „grantig“ drein, weil er hier nicht der Erste ist?

Die für uns schönste Figur an dieser Fassade ist die von König David, der Harfe spielt. Die Figuren von Gottvater mit der Schöpfung Adams auf der linken Seite (siehe Bild) und der Schöpfung Evas auf der rechten Seite rühren uns besonders an, wegen des liebenden Blicks und der zärtlichen Gesten. Auch erschafft Gott Eva nicht aus der Rippe des Adam, sondern eigenständig und vermittelt so den Eindruck, dass jeder, ob Mann oder Frau, als Person, als Abbild Gottes in die Welt geschickt ist.

Unser Rundgangs-Führer erzählt uns noch eine überlieferte Geschichte von der unterhalb liegenden Plaza Quintana: Auf dem ehemaligen Pilgerfriedhof befindet sich in einer Ecke eine Säule mit einer besonderen Bedeutung: Eine Nonne des Benediktinerinnenkloster und ein Mönch des gegenüberliegenden Klosters verliebten sich unsterblich ineinander. Da damals Männer und Frauen der Klöster nur sehr schwer zueinander kommen konnten, haben die beiden vereinbart, sich als Pilger zu verkleiden und abends um 21 Uhr an der Säule aufeinander zu warten, um gemeinsam zu fliehen. Der Mönch tat dies auch, aber er wartet als Pilger verkleidet bis zum heutigen Tag auf die Nonne... Wenn man genau hinsieht, kann man ihn ab und zu entdecken …